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Klimaschutz in Kommunen

„Wer bereit ist, sein Verhalten zu ändern, kann profitieren“

Interview: Astrid Dähn, 27.02.23
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer über die Gründe, weshalb die schwäbische Universitätsstadt auf dem Weg zur Klimaneutralität schneller vorankommt als andere Kommunen und wie die Gemeinde es schafft, den Wandel zu finanzieren.

neue energie: Viele Kommunen und Stadtwerke in Deutschland ächzen im Moment finanziell unter der Last der Energiekrise. Wie steht Tübingen da?

Boris Palmer: Wir stehen aus zwei Gründen recht gut da. Zum einen haben wir eine langfristige Beschaffungsstrategie bei Energie, sodass die extremen Preissteigerungen abgefedert sind durch frühere Terminkontrakte. Zum anderen, noch wichtiger, haben wir ein Jahrzehnt lang sehr stark in erneuerbare Energien investiert. Und die werfen jetzt, wie man weiß, sogar außerplanmäßige Gewinne ab.

ne: Diese Gewinne gehen dann an die Stadtwerke oder an die Stadt?

Palmer: Die Stadtwerke sind eine hundertprozentige Tochter der Stadt. Wir haben seit einigen Jahren die Vereinbarung, dass alle Gewinne im Unternehmen verbleiben. Vor allem, um die großen Investitionen in die Energiewende zu stemmen. Und so sollen auch die aktuellen Übergewinne genutzt werden, um weitere Wind- und Solarkraftwerke zu bauen und zu kaufen.

ne: Tübingen ist also beim Ausbau der Erneuerbaren weiter als andere Kommunen?

Palmer: Wir können 70 Prozent unseres Gesamtabsatzes beim Strom aus eigenen Erneuerbaren-Erzeugungsanlagen decken. Dieser Wert ist im bundesweiten Vergleich sehr, sehr hoch. Der wesentliche Unterschied zu vielen anderen besteht darin, dass wir früher begonnen haben und sehr viel schneller vorangekommen sind. Ich weiß von Stadtwerken ähnlicher Größe, die noch gar keine erneuerbaren Erzeugungsanlagen außer der Solaranlage auf dem Firmenhauptgebäude besitzen.

ne: Und das prägt heute den finanziellen Unterschied zwischen Tübingen und anderen Kommunen?

Palmer: Ja, wobei man sich klar machen muss, dass Kommunen, die vollständig Eigentümer ihrer Stadtwerke sind, und solche, die das nicht sind, völlig verschiedene Bedingungen beim Umbau ihrer Energieerzeugung haben. Wenn Tübingen keine Stadtwerke hätte, könnte ich Ihnen die Erfolgsgeschichte, die wir grade besprechen, nicht erzählen. In Abhängigkeit von einem landesweiten Versorger wie EnBW wäre das meiste davon nicht möglich gewesen.

ne: Wie lange gibt es die Tübinger Stadtwerke schon?

Palmer: Seit 1863, und seit 2011 engagieren wir uns dort so stark für die Erneuerbaren. Der Wendepunkt war der Regierungsantritt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Damals kam die Ansage, dass auch bei uns im Land jetzt solche Projekte unterstützt werden; bis dahin hatte die Landesregierung das eher bekämpft. Wir haben uns gesagt: Die Chance wollen wir nutzen und haben eine eigene Abteilung für erneuerbare Energien aufgebaut, die ständig wächst.

ne: 2020 hat der Tübinger Gemeinderat ein Klimaschutzprogramm beschlossen, wonach die Stadt bis 2030 klimaneutral werden will. Woher nehmen Sie das Geld dafür?

Palmer: Das Programm ist sehr umfangreich. Die wesentlichen Elemente sind der Ausbau der Ökostromerzeugung auf 150 Prozent des heutigen Bedarfs, die Umstellung der Fernwärme auf Erneuerbare und ein drastischer Ausbau der Netzversorgung, um viele fossile Einzelbrennöfen abstellen zu können. Und nicht zuletzt der Wechsel bei der Mobilität auf elektrische Antriebe, Sharing-Konzepte, Fahrrad und öffentlichen Nahverkehr.

ne: Ausbau und Umstellung der Fernwärmenetze beispielsweise sind aber doch extrem teure Projekte. Schaffen Sie das alles mit eigenen Mitteln?

Palmer: Die Fernwärme ist bei den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen konkurrenzfähig. Das heißt, Sie müssen in erster Linie die Wärmequellen identifizieren und Investitionen vorfinanzieren. Es braucht nicht zwingend Zuschüsse oder die Übernahme von Verlusten. Aber es gibt derzeit auch ein sehr gut dotiertes Förderprogramm vom Bund für die Umstellung von Fernwärmenetzen auf erneuerbare Energie. Wir planen zum Beispiel den Betrieb großer Wärmepumpen an unserer Kläranlage. Dafür werden wir Fördermittel akquirieren. Das sorgt dann für einen günstigen Wärmepreis. Bei neuen Anlagen zur Stromerzeugung kommt man dagegen bei derzeitigen Marktpreisen ohne jede Subvention aus. Da lautet die entscheidende Frage eigentlich nur: Kriege ich den Standort?

ne: Kann sich die Wende bei der Mobilität irgendwie refinanzieren?

Palmer: Nehmen wir mal den Fahrradsektor. Da gibt es Berechnungen, die zeigen, dass der Kilometer Autofahren für eine Kommune viel teurer kommt als der Kilometer Radfahren, wenn man alles ehrlich aufsummiert. So gesehen ist auch das langfristig eine Investition, die sich sehr wohl trägt, jedenfalls wenn man die künftigen CO2-Preise, den nötigen Energieaufwand und die Abschreibungen für die Infrastruktur mit einrechnet.

ne: Wenn es nicht am Geld mangelt, was sind dann aus Ihrer Sicht die größten Hürden für die ökologische Umgestaltung Ihrer Stadt?

Palmer: In erster Linie bürokratische Hemmnisse. Wir sind einfach viel zu langsam, weil wir viel zu kleinteilig Detailfragen und Vorschriften abarbeiten müssen und die Projekte dadurch wahnsinnig zäh werden. Dabei müssten wir unser Tempo mehr als verdoppeln, fast verdreifachen, um bis 2030 ans Ziel zu kommen.

ne: Wirkt sich auch die aktuelle geopolitisch angespannte Lage als Hindernis aus?

Palmer: Es liegt mir fern, den Krieg in der Ukraine und dessen Folgen irgendwie zu relativieren oder positiv zu bewerten. Aber Tatsache ist, dass das stark gestiegene Preisniveau der fossilen Energien den Umstieg auf Erneuerbare extrem beschleunigt und breiter wettbewerbsfähig gemacht hat, in der privaten Wirtschaft genauso wie bei der öffentlichen Hand. Insoweit hat das neue Energiepreisniveau für den Klimaschutz eindeutig große Vorteile.

ne: Obwohl jetzt auch die Zinsen wieder steigen und damit die Konditionen für Projekt-Kredite schlechter werden?

Palmer: Das neue Zinsniveau ist natürlich dabei noch nicht eingepreist. Das ist in der Tat ein Hemmnis, das wir uns anschauen müssen. Da sind wir aber erst in den Anfangsüberlegungen. Wie es sich auswirkt, wenn Kapital sehr viel teurer wird, kann ich Ihnen heute noch nicht beantworten.

ne: Was bedeutet der Wandel für die Tübinger? Müssen sie auch einen finanziellen Beitrag zum Umbau ihrer Stadt leisten?

Palmer: Ein bisschen. Aber wie stark es einen trifft, kommt darauf an, wie weit man sich verändern möchte. Nehmen Sie zum Beispiel die Parkgebühren. Für große, schwere Fahrzeuge haben wir die Gebühren im vergangenen Jahr auf das Sechsfache erhöht, von 30 auf 180 Euro. Wer aber auf einen Mittelklassewagen wechselt, für den belaufen sich die Gebühren nur auf 120 Euro. Und wer ganz auf das eigene Auto verzichtet und zum Carsharing übergeht, wird feststellen, dass er pro Monat viel mehr als nur den Parkausweis spart, insgesamt 300 oder 400 Euro Kosten rund ums Auto. Mit anderen Worten, wer bereit ist, sein Verhalten so zu ändern, dass es mit den neuen Preisanreizen auch dem Klima nützt, kann unter Umständen sogar profitieren.

ne: Profitieren die Tübinger auch davon, dass die Stadtwerke den Erneuerbaren-Strom vergleichsweise billig produzieren können und hohe Gewinne einfahren?

Palmer: Nein, die Strompreise hängen im Wesentlichen von unseren Einkaufskonditionen ab. Denn auch wenn wir 70 Prozent des Absatzes selber erzeugen, sind das keine Direktvermarktungen, sondern wir müssen die Energie zu den Preisen an unsere Kunden abgeben, die längerfristig in festen Kontrakten vereinbart wurden. Das heißt, die Marge für die Stadtwerke steigt, aber das Preisniveau insgesamt kann man dadurch nicht beeinflussen. Die Tübinger zahlen jetzt einen marktüblichen Durchschnittspreis für Energie.

ne: Wie ist das beim Solarstrom? Tübingen setzt sich für eine Solarpflicht auf allen geeigneten Dächern ein, auch von Bestandsgebäuden. Tragen die Tübinger Hausbesitzer das mit?

Palmer: Beim Solardach ist es einfach, die Bürger mitzunehmen. Der Strom vom Dach ist sowieso billiger als alles, was man kaufen kann. Da gibt es also keine soziale Härte.

ne: Aber die Eigenheimbesitzer müssen sich die Anlagen ja erstmal leisten können...

Palmer: Wenn es gewünscht ist, übernehmen unsere Stadtwerke die Anlagenfinanzierung und Beschaffung. Die Hausbewohner müssen dann nur noch den Strom kaufen.

ne: Gibt es darüber hinaus Initiativen der Stadt, um eventuelle finanzielle Härten abzufedern, die mit der Transformation verbunden sein könnten?

Palmer: Die gibt es. Wir haben etwa gerade einen Fond von 250 000 Euro aus dem Gewinn der Stadtwerke eingerichtet, mit dem wir Menschen helfen können, die besonders von den Härten der Energiepreisentwicklung betroffen sind. Gleichzeitig versuchen wir die Bürger auch beim Nahverkehr zu entlasten. An Samstagen haben wir bereits kostenloses Fahren für alle eingeführt. Das wollen wir jetzt durch ein Tübinger Deutschlandticket ergänzen, das wahrscheinlich zehn bis zwanzig Euro unter dem Bundespreis liegen wird.

ne: Klingt recht gut. Warum beschreiten nicht mehr Kommunen einen ähnlichen Weg wie Tübingen?

Palmer: Nach dem, was ich bei anderen gesehen habe, ist unsere Wegrichtung weitaus stärker verbreitet, als man öffentlich wahrnimmt. Was den Radverkehr angeht, schaue ich zum Beispiel gerne nach Münster. Dort haben wir uns für unsere Fahrradstation inspirieren lassen, die wir dieses Jahr einweihen werden. Und Kopenhagen war Vorbild für unsere Fahrradbrücken. Ich sehe Tübingen nicht als Solitär, sondern eher als Flaggschiff einer großen Flotte. Aber es stimmt, dass ich mir als Oberbürgermeister beim Klimaschutz schon öfter Pionierprojekte vorgenommen habe, die mehr Wagnis erfordern oder vielleicht auch mal ein bewusstes Ausreizen der rechtlichen Spielräume. Denn ich glaube, dass es sonst nicht schnell genug vorangeht.

ne: Und was gefällt Ihnen besonders von dem, was Sie in Tübingen bisher erreicht haben?

Palmer: Wie man die Veränderungen wahrnimmt, hängt natürlich sehr von den individuellen Ansprüchen ab, Mir kommt unsere Verkehrspolitik weg vom eigenen Auto entgegen. Wer seine Lebensfreude über Geschwindigkeit auf der Autobahn und das Geräusch von zwölf Zylindern definiert, der wird das als Abstrich wahrnehmen. Aber wer sich damit anfreunden kann, dass man immer situationsangemessen genau das Fahrzeug mit dem Handy freischalten kann, das man gerade braucht, wird die Flexibilität als neue Freiheit wahrnehmen. So geht es mir. Ich empfinde es als Gewinn, dass ich immer machen kann, was ich will. Und nicht an die eine Investitionsentscheidung gebunden bin, die ich irgendwann mal vor drei Jahren getroffen habe.


Boris Palmer

ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen, letzten Herbst wurde er ein drittes Mal für acht Jahre in seinem Amt bestätigt. Zuvor saß er für die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, derzeit ruht seine Parteimitgliedschaft jedoch.

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