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Interview

„Klimaschutz ist für mich auch Freiheitspolitik“

Interview: Astrid Dähn und Jörg-Rainer Zimmermann, 08.11.19
... sagt Annalena Baerbock, Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview spricht sie über ihre Kritik am Klimapaket der Bundesregierung, die Notwendigkeit von Regeln und das Spannungsfeld zwischen ambitionierten Zielen und politischem Kompromiss.

neue energie: Das Klimapaket der Bundesregierung wurde viel kritisiert, auch von den Grünen. Gibt es einen Aspekt, den Sie positiv finden?

Annalena Baerbock: Ein Klimaschutzgesetz, das jedem Sektor – Verkehr, Gebäude, Energie, Landwirtschaft, Industrie – Vorgaben macht, wie viel CO2 er reduzieren muss, war absolut überfällig. Auch einige der Einzelmaßnahmen sind sinnvoll, etwa die Gebäudesanierung endlich steuerlich absetzbar zu machen oder die Mehrwertsteuer bei der Bahn zu senken.

ne: Das ist eine recht kurze Liste...

Baerbock: Das Problem ist, die kleinen Einzelmaßnahmen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dem Paket die eigentlichen Kernpunkte für Klimaschutz fehlen: Es braucht erstens ein wesentlich verbindlicheres Klimaschutzgesetz, das auch Sanktionen vorsieht, wenn ein Sektor wie der Verkehr seine Reduktionsziele nicht einhält. Zweitens benötigen wir auch ordnungsrechtliche Maßnahmen. Man muss beispielsweise klar sagen, ab wann es keine neuen fossilen Verbrennungsmotoren mehr geben darf oder wann wir auf eine klimaneutrale Stahlerzeugung umsteigen müssen, damit sich die Industrie darauf einstellen kann. Außerdem brauchen wir einen höheren CO2-Preis. Zehn Euro entfalten keine Lenkungswirkung. Und der vierte und zentralste Punkt ist, dass die erneuerbaren Energien weiter ausgebremst werden. Dabei ist ein weiterer Ausbau erforderlich. Ohne Erneuerbaren-Strom gibt es ja keine Verkehrswende, keine Wärmewende und auch keinen Kohleausstieg. Das heißt, das Herz des Ganzen schlägt in diesem System nicht richtig, das ist fatal.

ne: Inwieweit werden die Grünen da jetzt noch auf Nachbesserungen pochen, etwa über den Bundesrat?

Baerbock: Sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag haben wir mehr als deutlich gemacht, dass das so nicht geht. Wir bringen zahlreiche Änderungsanträge auf den Weg. Aber auch der beste Bundesrat kann aus diesem dünnen Päckchen kein ausreichendes Klimapaket machen, weil die zentralen Aspekte im Bundesrat gar nicht zustimmungspflichtig sind. Und bei denen, die es sind – das betrifft vor allem den Steuerbereich –, tun sich mehr Fragen als Antworten auf. Selbst für eine so richtige Maßnahme wie die steuerliche Förderung von Gebäudesanierungen steht in der Vorlage der Regierung nicht, bis zu welchem Grad Gebäude eigentlich saniert werden müssen. Das heißt, wir wissen, wie hoch die Kosten sind, aber nicht, wie viel CO2 eingespart werden soll. Von der Erhöhung der Pendlerpauschale, die weder Klimaschutz noch sozialen Ausgleich bringt, ganz zu schweigen.

ne: Unter dem Motto „Maßnahmen für ein klimaneutrales Land“ haben die Grünen Anfang Oktober einen eigenen Entwurf für ein Klimaschutzpaket vorgelegt. Wann soll Deutschland danach klimaneutral sein?

Baerbock: Unsere Messlatte ist das Paris-Abkommen. Darin haben sich fast alle Staaten dieser Welt verpflichtet, schnellstmöglich treibhausgasneutral zu werden, damit wir die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad begrenzen können. In Paris wurde 2050 als Zieljahr zur Klimaneutralität für die Industriestaaten anvisiert. Seitdem ist jedoch nichts passiert. Es kommt vor allem darauf an, wie viele Tonnen CO2 wir maximal noch in die Luft blasen dürfen. Dieses Budget ist begrenzt. In Deutschland sind wir im Augenblick auf einem vollkommen unzureichenden Emissionsminderungspfad. Wenn wir das nicht ändern, ist unser Budget in weniger als neun Jahren verbraucht. Deshalb ist es so wichtig, jetzt schneller zu handeln, sodass wir uns nach hinten raus ein bisschen mehr zeitlichen Spielraum für die Umstellung verschaffen.

ne: Was meinen Sie mit „jetzt schneller handeln“ konkret?

Baerbock: Schneller handeln bedeutet, unverzüglich überall dort aus den fossilen Energieträgern auszusteigen, wo wir Alternativen haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Man sollte festlegen, dass keine neuen Ölheizungen mehr eingebaut werden dürfen. Und zwar ab sofort und nicht, wie die Bundesregierung es vorschlägt, erst ab 2026.

ne: Dass die Grünen beim Klimaschutz immer wieder auf die Notwendigkeit von gesetzlichen Regeln pochen, wird Ihnen von Ihren politischen Gegnern oft vorgeworfen. Da heißt es dann, Sie wollten die Bürger gängeln, ihre Freiheit einschränken…

Baerbock: Das ist falsch, eher das Gegenteil ist der Fall. Nur mit strengen Vorgaben zum Klimaschutz ermöglichen wir unseren Kindern und Enkelkindern die Freiheit, auf einer nicht völlig überhitzten Erde leben zu können. In der Klimadebatte wird die Freiheit von einigen gerne mit dem Egoismus verwechselt, tun und lassen zu können, was einem beliebt, koste es die Natur oder die Mitmenschen, was es wolle. Durch unser derzeitiges Wirtschaften und unser Konsumverhalten schränken wir die Freiheiten zukünftiger Generationen ein. Auch die der Menschen im Globalen Süden, die bereits heute unter klimabedingten Dürren oder Überschwemmungen leiden. Deswegen ist Klimaschutz für mich auch Freiheitspolitik.

ne: Müssten wir dann unsere Vorstellung von Freiheit überdenken?

Baerbock: Nicht unser Freiheitsbegriff muss sich ändern, sondern unsere Politik. Und wir haben gerade im Umweltbereich schon oft gezeigt, dass entschiedene Politik etwas verändern kann.

ne: Zum Beispiel?

Baerbock: Beispielsweise auf europäischer Ebene mit der sogenannten REACH-Verordnung. Darin ist detailliert aufgelistet, welche chemischen Stoffe gefährlich sind und verboten werden müssen. Anfangs hieß es, das werde die Chemieindustrie aus Europa vertreiben. Es kam aber anders. Die Verordnung war vielmehr der Auslöser für Innovationen, weil Ersatzstoffe entwickelt werden mussten. In der Debatte wird meiner Ansicht nach oft die Tatsache vernachlässigt, dass der Abschied vom Alten immer auch die Chance für etwas Neues beinhaltet. Das gilt auch für Veränderungen durch Klimavorgaben.

ne: Klimaschutz als Innovationsmotor?

Baerbock: Ja, wer zuerst dabei ist, wird zum industriellen Vorreiter. Und gerade bei herkömmlichen Technologiezweigen wie der Stahlproduktion, kann der Klimaschutz auch zur Standortsicherheit für Deutschland oder Europa beitragen. Wenn zum Beispiel ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch klimaneutraler Stahl in Autos verbaut werden dürfte, würde das bedeuten, dass nur die Unternehmen auf unserem Markt agieren können, die Stahl entsprechend herstellen. Billigkonkurrenz, die die Standards nicht einhält, hätte bei uns keinen Zugang mehr. Das könnte den deutschen oder europäischen Stahl gegenüber Importstahl aus dem Rest der Welt konkurrenzfähiger machen. Aus diesen Gründen gibt es auf EU-Ebene gerade etliche Diskussionen darüber, wie man die bestehenden ordnungsrechtlichen Maßnahmen sinnvoll erweitern könnte.

ne: Sie sagen, eine schwache Klimagesetzgebung beschneide die Freiheit künftiger Generationen. Das erhebt strikten Klimaschutz zu einer Art moralischen Pflicht. Inwiefern können die Grünen unter diesen Umständen beim Thema Klimawandel noch Kompromissbereitschaft zeigen, etwa in möglichen Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU nach der nächsten Bundestagswahl? Gibt es da rote Linien für Sie?

Baerbock: Noch gibt es nicht einmal einen konkreten Termin für die nächste Bundestagswahl. Schon deshalb wäre es etwas schräg, in Interviews Koalitionsverhandlungen zu führen. Natürlich wird Klimaschutz bis dahin ein zentrales Thema bleiben und in seiner Dimension vermutlich sogar noch wichtiger werden – leider. Als Bürgerin dieses Landes und dieser Welt hatte ich wirklich gehofft, dass das Klimapaket der Regierung deutlich mehr zur Lösung des Problems beitragen würde. Denn bei der CO2-Reduktion kommt es eigentlich auf jeden Monat an. Wenn wir in den kommenden anderthalb bis zwei Jahren bis zur nächsten Wahl weiterhin fast gar nichts tun, wird es echt hart werden, auch nur annähernd eines unserer verbindlich zugesagten Klimaziele zu erreichen.

ne: Dann hoffen Sie auf einen vorzeitigen Bruch der Koalition?

Baerbock: Ich hoffe auf eine Regierung, die sich endlich besinnt und beim Klimaschutz das tut, was sie tun muss, um die beschlossenen Ziele einzuhalten und die Erderwärmung wirklich in den Griff zu bekommen.

ne: Aber noch einmal, wie kompromissbereit sind die Grünen beim Klimaschutz?

Baerbock: Demokratie setzt den Kompromiss voraus. Zum Glück, ansonsten hätten wir ein autoritär gelenktes Regime, in dem alle eine Meinung haben müssen.

ne: Und was wäre Ihnen am wichtigsten?

Baerbock: Die Zeiten des Entweder-Oder sind vorbei. Wir müssen grundlegend umsteuern. Der allererste Schritt wäre, jetzt sofort mit dem Kohleausstieg zu beginnen, weil Kohlekraftwerke die größte CO2-Quelle in Deutschland sind, das Abschalten sofort wirkt und wir hier über die besten Alternativen verfügen. Am Ende müssen wir alle Sektoren komplett treibhausgasneutral bekommen, weil wir nur so viel CO2 ausstoßen dürfen, wie das Erdsystem auf natürliche Weise aufnehmen kann.

ne: Aber damit sind doch die Grenzen eines Kompromisses klar vorgezeichnet. Im Moment ist Deutschland noch längst nicht auf dem Weg zu einer ausgeglichenen CO2-Bilanz. Und die maximale CO2-Menge, die wir gemäß den Zielen des Paris-Abkommens noch ausstoßen dürfen, wird auf diesem Pfad mit ziemlicher Sicherheit überschritten. Wie weit wären die Grünen bereit, diesen falschen Weg in einer Koalition mitzugehen?

Baerbock: Sorry, aber noch mal: Ich rede jetzt nicht von dem, was bei einer Bundestagswahl 2021 sein könnte, sondern von dem, was jetzt nötig ist. Die Zeit drängt. Es kommt auf jede Tonne CO2-Einsparung, jeden Tag an, weil jedes Zehntel Grad mehr an globaler Durchschnittstemperatur unser Ökosystem massiv schädigt. Wenn wir durch Mitwirken von uns Grünen zumindest einen Schritt vorankommen und gleichzeitig verhindern, dass man ohne uns drei Schritte zurückgeht, dann weiß ich, wofür ich mich entscheide. Wie hart es allerdings ist, auch nur einen Schritt voranzukommen, haben wir gerade in Brandenburg in den Koalitionsverhandlungen mit SPD und CDU erlebt. Als oberste Leitlinie können sich immer alle auf die Einhaltung der Pariser Klimaziele verständigen. Wenn es aber konkret um die Änderungen des Braunkohleplans geht, dann wird’s schon härter.

ne: Dass die Grünen dann deutliche Abstriche von ihren Forderungen machen müssen, liegt auf der Hand. Zumal in ihrem Klimaprogramm auch steht, dass sie weite Teile der Bevölkerung mitnehmen möchten. Ob im Bund oder in den Ländern – bei allen Koalitionsverhandlungen befinden sie sich zwischen den Vertretern von Klimabewegungen wie den Fridays for Future einerseits und den Fürsprechern der Fossil-Branche in Union, SPD und FDP andererseits.

Baerbock: Wir Grüne waren immer Teil der Umwelt- und Klima-Bewegung und zugleich Teil derjenigen, die in Parlamenten Dinge vorangebracht haben. Dazu gehört, Kompromisse einzugehen, weil es in Parlamenten ohne absolute Mehrheit nun mal nicht anders geht. Aber es gilt, den politischen Mut zu haben, sich nicht immer nach den augenblicklichen Stimmungen zu richten. Beim Atomausstieg war das anfangs auch so: Zu Beginn war er alles andere als mehrheitsfähig in der Gesellschaft. Ohne die rot-grüne Ausstiegsvereinbarung mit den Betreibern gäbe es ihn heute nicht – und inzwischen ist er breit akzeptiert.

ne: Viele Vertreter der Fridays for Future und auch manche Wissenschaftler hätten sich gefreut, wenn Ihr neues Klimakonzept noch ambitionierter ausgefallen wäre...

Baerbock: Es ist absolut richtig, dass sowohl Wissenschaftler als auch die Klimabewegung den Finger in die Wunde legen und antreiben. Das ist ihre Rolle. Ureigenste Aufgabe von Politik ist es, den Weg in konkreten Schritten zu beschreiben und umzusetzen, in Gesetzen, die dann vor dem Verfassungsgericht Bestand haben müssen. So sorgt sie dafür, dass ambitionierte Ziele auch Realität werden.

ne: Ist das der „radikal realistische“ Handlungsansatz, auf den Ihre Partei in ihrem Klimaschutzprogramm abhebt?

Baerbock: Ja, wir wollen verändern und nicht nur versprechen. Radikal bedeutet ja dem eigentlichen Wortsinn nach, das Problem an der Wurzel zu packen. Dazu müssen wir die Realität beschreiben, wie sie ist: Wir stehen vor der größten Menschheitsaufgabe. Die werden wir nur bewältigen, wenn wir nicht in Studienergebnissen verharren, sondern konkret anfangen, das zu tun, was nötig ist. Wir müssen die tausenden Windräder ja auch irgendwie bauen und dafür um Akzeptanz ringen. Das geht nicht auf Knopfdruck.

ne: Glauben Sie, dass Sie mit diesem Realismus die klimastreikenden Schüler und Studenten auf der Straße mitnehmen können?

Baerbock: So, wie ich viele der klimastreikenden Schülerinnen und Schüler erlebe, geht es ihnen nicht darum, mitgenommen zu werden. Sondern die wollen, dass sich endlich was verändert. Daran werden sie uns messen. Und zwar zu Recht.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Den vollständigen Text lesen Sie in der Ausgabe 11/2019 von neue energie, unter anderem zu den Plänen der Grünen im Stromsektor.


Annalena Baerbock
ist seit Anfang 2018 Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Zuvor war die Völkerrechtlerin von 2009 bis 2013 Parteivorsitzende in Brandenburg und anschließend als Bundestagsabgeordnete Sprecherin für Klimapolitik.

 

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