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Kommentar vor der Bundestagswahl

Erleben wir die erste Klimawahl?

Jörg-Rainer Zimmermann, 25.09.21
Die Spannung steigt: In etwas mehr als 24 Stunden wird sich zeigen, ob die Abstimmung zum 20. Deutschen Bundestag erstmals eine „Klimawahl“ geworden ist.

Zumindest der Wahlkampf deutet darauf hin, dass die Zielsetzungen des Pariser Klimavertrags diesen Urnengang sehr viel stärker prägen als in der Vergangenheit der Fall – obwohl das internationale Abkommen von 2015 stammt. In den sechs Jahren seitdem hat es die Politik versäumt, Maßnahmen einzuleiten, um die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Mit der Strategie des „Weiter so“, die im Wesentlichen das Geschäft der letzten Regierungen prägte, steuern wir laut Klimaforschern stattdessen auf deutlich mehr als zwei Grad zu. Das klingt nicht nach viel, hätte aber gravierende Folgen für das Ausmaß der Klimakrise.

Ein deutliches Zeichen hat gestern, zwei Tage vor der Wahl, noch einmal die Jugendprotestbewegung Fridays-for-Future gesetzt. In Deutschland gingen bei ihrem Klimastreik weit über 600.000 Menschen auf die Straße, allein in Berlin waren es 100.000. Daran zeigt sich, dass auch nach der Corona-bedingten Demo-Abstinenz einer großen Zahl der Bürgerinnen und Bürger Klimaschutz eine Herzensangelegenheit ist.

Viele der Demonstrierenden dürfen noch nicht wählen oder sind zumindest in der Minderheit gegenüber älteren Generationen. Doch es spricht einiges dafür, dass es sich um einen nachhaltigen, gesamtgesellschaftlichen Trend handelt. Das zeigen Umfragen, aber auch die wachsende Zahl von Klimaschutz-Bündnissen, an denen sich auch große Namen aus der Wirtschaft beteiligen. In der Stiftung 2 Grad etwa engagieren sich mittlerweile Großkonzerne wie Thyssen, Aldi oder die Deutsche Bahn.

Auch Unternehmen appellieren an die Politik

Über eine steigende Zahl von Mitgliedsunternehmen kann sich auch der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft freuen. Und erst vor wenigen Tagen erinnerten über 90 Akteure aus Industrie und Wirtschaft die Bundespolitik mit ihrem „Husumer Appell“ daran, das für echten Klimaschutz in der Praxis Worte nicht reichen, sondern nicht zuletzt Ökostrom-Anlagen in großer Menge gebaut werden müssen. Zu den Unterzeichnern zählen Erneuerbaren-Verbände wie der BWE und der BEE, Gewerkschaften, Mittelständler, Global Player sowie Banken.

Allerdings, der Blick auf die Parteien enttäuscht – auch wenn die meisten Spitzenpolitiker mittlerweile merkwürdig ähnlich klingende Aussagen zum Klimathema hören lassen. Eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) etwa kommt zu dem Ergebnis, dass kein Programm jener Parteien, die realistisch mit dem Einzug ins Parlament rechnen können, mit den Pariser Klimabeschlüssen vereinbar ist – selbst wenn manche sehr viel weiter davon weg sind als andere. Auch Fridays-for-Future-Vertreter betonen das immer wieder.

Scholz' Lob sorgt für erwartbare Kritik

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz darf sich deshalb nicht wundern, wenn er sich auf Twitter bei den Aktivistinnen dafür bedankt, dass sie „mitgeholfen“ hätten, dass Klimaschutz „oben auf der Agenda“ steht – und dafür sofort von ihnen zurechtgewiesen wird, ihr Protest richte sich gegen die von ihm mitverantwortete Politik. Der bei den Scientists-for-Future aktive Energieforscher Volker Quaschning warf Scholz wiederum vor, dieser ignoriere die Empfehlungen der Wissenschaft.

Was also können Abstimmungsberechtigte tun, die morgen für eine echte Klimawahl sorgen wollen? Entscheidungshilfen gibt es unzählige, wie den Wahlomat der Bundeszentrale für politische Bildung oder Analysen wie jene des DIW. Am Ende bleibt wohl nur, ganz pragmatisch dort die Kreuze zu setzen, wo das kleinste Risiko für ambitionierten Klimaschutz vermutet werden darf – gepaart mit der größten Wahrscheinlichkeit, dass die Wahlversprechen auch umgesetzt werden. Und wer weiß: In Parteien, die sich dem Klimaschutz ernsthaft verschrieben haben, ist die Empfänglichkeit für den Druck der Klimabewegung zumindest deutlich größer als in der bisherigen Regierungskoalition. Vielleicht geht da ja doch noch was in Richtung 1,5 Grad.

 

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