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Interview

„Deutschland kann nicht Energiewendeland sein und Kohleland bleiben“

Interview: Jörg-Rainer Zimmermann, 30.11.17
…sagt Patrick Graichen, Chef des Berliner Thinktanks Agora Energiewende. Mit neuen Studien macht er sich für einen ambitionierten, aber am Möglichen orientierten Kohleausstieg stark.

neue energie: Herr Graichen, auf der COP23 hat die Kanzlerin kein klares Bekenntnis zu einem schnellen Kohleausstieg abgegeben. Ist das ein enttäuschendes Signal an die Welt?

Graichen: Das Statement der Kanzlerin kam in der Nacht vor ‚der Nacht‘, dem ursprünglich geplanten Ende der Sondierungsgespräche. Es war klar, dass Angela Merkel zu diesem Zeitpunkt keine Positionen räumen würde, die Gegenstand der Koalitionsverhandlungen waren.

ne: Die SPD hat zunächst wiederholt erklärt, nicht als Koalitionspartner zur Verfügung zu stehen. Würde es ihr helfen, sich neu zu definieren, indem sie sich von ihrem Bekenntnis zur Kohle verabschiedet?

Graichen: Was alle Parteien benötigen, besonders die SPD, ist eine positive Vision der Zukunft. Nicht zuletzt auch für die betroffenen Regionen. Die Lausitz und das Rheinische Revier werden im Jahr 2040, also dann, wenn das Pariser Klimaschutzabkommen nicht mehr Ziel, sondern Wirklichkeit sein muss, nicht mehr Kohleregion sein können. Es braucht eine Vision, wie dort künftig Wertschöpfung möglich ist. Wir haben deshalb für die Lausitz ein Strukturwandelkonzept vorgelegt. Etwas Ähnliches braucht es für das Rheinische Revier. Ich hielte es für sinnvoll, wenn die SPD selbst mit einer solchen Vision an die Menschen herantreten würde.

ne: Übersetzt heißt das, Kohleausstiegsbremser machen eine Politik gegen den Kohlekumpel …

Graichen: Sich gegen den Kohleausstieg zu positionieren heißt im Kern, an alten Strukturen festzuhalten, die keine Zukunft haben. Und keine Kreativität freizusetzen, die es braucht, um sich mit Alternativen zu beschäftigen. Ich könnte mir zum Beispiel Foren vorstellen, zu denen die betroffenen Bürger einer Region eingeladen werden. Dort könnte über zukunftsfähige Lösungen diskutiert werden. Klar ist, Deutschland kann nicht Energiewendeland sein und Kohleland bleiben.

ne: Gegen Ende der Sondierungsgespräche überraschte das Bundeswirtschaftsministerium mit der Nachricht, dass der Kohleausstieg für die Versorgungssicherheit gut sei. Solche deutlichen Aussagen gegen die Kohle gab es dort unter Minister Gabriel nicht …

Graichen: An der Meldung war die Bundesnetzagentur beteiligt. Wenn man im Norden und Osten Deutschlands Kohlekraftwerke stilllegt, dann reduziert man damit massenhaft Kosten für Redispatch und Einspeisemanagement. Zusätzlich erreicht man, dass bei Engpässen weniger Maßnahmen zur Netzstabilisierung nötig sind. Das ist jedem Branchenkenner seit langem bekannt, und es gibt entsprechende Studien zur Netzbelastung. Dazu wurde von den Verhandlern eine Anfrage an das Ministerium gestellt, und entsprechend wurde das dort ausformuliert.

ne: Ist trotz der gescheiterten Jamaika-Koalition mit dieser Einschätzung des Ministeriums jetzt nicht ein wichtiges Argument der Kohleausstiegs-Gegner ausgehebelt?

Graichen: Es gibt zwei Themen, die man gleichzeitig betrachten sollte. Geraten Erneuerbare und Kohle in Konflikt? Ja, das ist immer dann der Fall, wenn sie in einer bestimmten Region an einem Netzengpass beteiligt sind. Dort ist das Abschalten der Kohle für die Netzstabilität wie auch für den Klimaschutz sinnvoll. Die zweite Frage, die man betrachten muss, ist, wie viele Kraftwerke wir insgesamt in Deutschland haben, um in der kalten Dunkelflaute unsere Versorgung zu gewährleisten und wie viele es zusätzlich im europäischen Ausland gibt, die – auch heute schon – für die Erfüllung der Versorgungssicherheit bereitstehen. Bei dieser Frage geht es im Kern darum, Kraftwerke zu zählen. Das Ergebnis der Bundesnetzagentur und des Wirtschaftsministeriums lautet, dass es genügend Kraftwerke gibt. Ich teile diese Auffassung. Wenn andere Akteure andere Zahlen haben, sollten wir einen Zahlenvergleich machen. Die relevante Größe ist aber das Ergebnis für das Jahr 2023. Bis dahin ist noch etwas Zeit. Es können Gaskraftwerke ans Netz gehen, Industriebetriebe werden Lastmanagement einsetzen. Mit Blick auf heute zu sagen, was in fünf Jahren alles nicht geht, halte ich für völlig vermessen.


neue energie kooperiert für repräsentative Umfragen mit dem Umfrageinstitut Civey. Abstimmen kann jeder, doch berücksichtigt werden nur die Abstimmungen registrierter User. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Alle Informationen zur Methodik finden Sie hier.


ne: Während der Sondierungsgespräche hat Greenpeace die Kompromissbereitschaft der Grünen beim Kohleausstieg kritisiert. Wäre damit das Klimaziel faktisch aufgegeben worden?

Graichen: Wir wissen, dass uns von heute bis zum Jahr 2020 eine CO2-Minderung von 150 Millionen Tonnen fehlt. Die bereits beschlossenen Maßnahmen decken einen Wert zwischen 40 und 50 Millionen Tonnen. Bleiben also 100 Millionen Tonnen als Klimalücke, die die Politik schließen muss. Jetzt haben die Grünen mit der Stilllegung von alten Kohlemeilern von 50 Millionen Tonnen gesprochen, Greenpeace will eine Reduktion von 80 bis 90 Millionen. Allerdings ist offen, welchen Beitrag andere Maßnahmen leisten können. In den Jahren 2018 und 2019 bieten sich Sonderausschreibungen für Onshore-Wind und Solar an. Als Bedingung müssten die Anlagen dann bis zum 31.12.2019 wirklich am Netz sein. Das würde helfen, zusätzliche CO2-Minderungen für das Jahr 2020 zu bekommen, da eine Substitution der Kohle durch Gas vermieden werden könnte.

ne: Gibt es andere Maßnahmen zur CO2-Reduktion, mit denen man Verzögerungen beim Kohleausstieg kompensieren könnte? Etwa mit mehr Energieeffizienz?

Graichen: Bei der Energieeffizienz müssen wir deutlich nachlegen. Gerade im Gebäudebereich brauchen wir die Verdopplung der Sanierungsquote, von der wir seit zehn Jahren reden. Eine steuerliche Förderung ist dort also jetzt Pflicht. Man muss allerdings realistisch sein, so viele Tonnen wird das bis 2020 nicht bringen. Vielmehr werden wir die Effizienz brauchen, um unsere 2030er-Ziele zu erreichen. Was bis 2020 noch etwas bringen kann, ist der Tausch von alten Heizkesseln. Derzeit haben wir noch rund sechs Millionen alter Kessel in bundesdeutschen Kellern, die oft 30 Jahre und älter sind. Allein der Tausch von einer Million Kesseln kann bis zu sechs Millionen Tonnen CO2 einsparen.

ne: Agora hat bei der Kohle vorgeschlagen, zunächst alte Kraftwerke mit einer Leistung von 8,4 Gigawatt stillzulegen. Energy Brainpool hat einen Vorschlag mit 17 Gigawatt vorgelegt, andere Experten fordern sogar noch mehr. Rechnen Sie eher konservativ?

Graichen: Wir haben durchgerechnet, was es bedeutet, wenn man die 20 ältesten Braunkohlekraftwerke abschaltet. Das war die Forderung, die im politischen Raum stand. Daraus haben sich die 8,4 Gigawatt ergeben, sie bringen in etwa die Minderung von 50 Millionen Tonnen. Wenn man mehr möchte, kann man das machen. Dann muss man aber zugleich auch die Frage beantworten, wie man im Jahr 2020 die Leistungsbilanz sichern möchte. Denn irgendwann wird es dann schon mit der Erzeugung knapp.

ne: Nach Veröffentlichung des Agora-Papiers wurde in manchen Medien wieder einmal schnell das Gespenst vom Blackout in Deutschland an die Wand gemalt. Auch Netzbetreiber Amprion äußerte sich entsprechend. Müssen wir Angst haben, dass bei uns die Lichter ausgehen?

Graichen: Nein, müssen wir nicht. Ähnliche Ängste gab es auch, als 2011 die Kernenergie vom Netz ging. Und es ging glatt. Natürlich sind die Netzbetreiber in der Pflicht. Aber am Ende findet man eine technische Lösung, wenn es den politischen Willen gibt.

Eine ausführliche Fassung des Interviews lesen Sie in neue energie 12/2017.


Patrick Graichen
ist seit 2014 Direktor von Agora Energiewende, zuvor war er dort stellvertretender Direktor. Von 2001 bis 2012 war er im Bundesumweltministerium tätig, unter anderem als Referatsleiter für Energie- und Klimapolitik. Graichen hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert.

Die Studien von Agora Energiewende zum Kohleausstieg finden Sie hier.

 

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